Wir sitzen über den Seekarten und beraten, wie es für uns weiter geht. Noch liegen wir im Hafen von Upernavik. Am Vorabend haben wir kurz vor Mitternacht an der einzigen Pier des kleinen Ortes festgemacht. Für die Jugendlichen des Ortes war das eine willkommene Abwechslung. Für Groß und Klein ist der Hafen ein großer Abenteuerspielplatz.

In Neoprenanzügen verpackt, stürzen sie sich vor unseren Augen von der Pier in das eiskalte Wasser. Hier nördlich des 72. Breitengrades ist die Polarnacht 75 Tage lang, da will der lange Sommer gut genutzt sein. Upernavik ist unser letzter Zwischenstopp auf dem Weg in den dünn besiedelten Norden, der letzte Outpost an dem wir alles Wichtige besorgen können. Wir verproviantieren uns, bunkern Wasser, duschen im örtlichen Krankenhaus und schreiben unseren Familien. In den kommenden drei Wochen werden wir nur noch in Ausnahmefällen über das Satellitentelefon Kontakt halten können. Über diesen Kanal wird auch dieser Logbucheintrag versendet. Brigitte und Arved haben noch einen Spaziergang in die Vergangenheit gemacht und sind über die Berge auf die andere Seite der kleinen Insel gelaufen. Von einer Anhöhe aus konnten sie die Bucht einsehen, in der die "Dagmar Aaen" im Winter 2009-2010 eingefroren war.

Drei Crewmitglieder hatten dort die polare Nacht bei Eiseskälte verbracht. Über den Verlauf der Überwinterung untersuchten sie für das Max Planck Institut aus Hamburg in einer Langzeitstudie die Eisentwicklung. Die Wissenschaftler hatten umfangreiche Messgeräte im Eis ums Schiff herum installiert. Während die Wissenschaftler um deren Leiter Dr. Dirk Notz sporadisch vor Ort waren, kümmerte sich die Überwinterungscrew um die Sensorik und musste Daten auslesen, die später im Institut analysiert wurden. Die Ergebnisse waren insgesamt ernüchternd, da das Meereis sich viel später als üblich bildete und auch nicht die Stärke und Festigkeit erlangte, die zu erwarten gewesen wäre. Die Grönländer sagten uns damals: "Das Meer ist einfach zu warm, um festes Eis zu bilden."

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Jetzt aber soll es weiter gehen, wir lauschen gespannt Arveds Ausführung wo er bereits gewesen ist, was er dort erlebt hat und welche Optionen wir haben. Da wir Anfang September wieder in Ilulissat sein müssen und wir durch den Propellerschaden Zeit verloren haben, entscheiden wir uns erst einmal so weit wie möglich auf direktem Weg in Richtung Norden zu fahren. Wir wollen nach Siorapaluk, der nördlichsten gewachsenen Siedlung der Welt. Dort entscheiden wir, ob wir es uns noch erlauben können, weiter nördlich zu reisen oder den langsamen Rückweg entlang der Küste antreten werden.Wir wollen noch zahlreiche Gletscher untersuchen und haben es uns abgewöhnt, lange im Voraus zu planen. Der unfreiwillig längere Aufenthalt in Island hat uns gelehrt, auf veränderte Situationen spontan zu reagieren. Und letzlich entscheidet - wie immer - das Wetter über die weitere Reiseplanung.

Die Entscheidung ist gefallen, innerhalb weniger Minuten wird die Maschine gestartet und die Leinen werden losgeworfen. Wir haben uns für die direkte Querung der Melville Bucht entschieden. Kurs 314 Grad für die nächsten 300 Seemeilen. Der Seewetterbericht sagt uns eine steife Brise und fallende Temperaturen voraus. So fahren wir in die helle Sommernacht hinein. Wir sind alle schnell wieder im Wachrhythmus. Vier Stunden an Deck, acht Stunden Freizeit. Es regnet und Nebel zieht auf. Bei 2° Lufttemperatur ist es wirklich ungemütlich an Deck! So vergeht der Sonntag im Nebel, und außer ein paar Eisbergen ist nicht viel zu sehen. Der dicke Seenebel nimmt uns jede Sicht. Das bedeutet für uns, dass auf dem Vorschiff Eiswache gegangen werden muss. Mehrere Stunden bei feucht kaltem Wetter auf eine graue Wand zu starren und zu versuchen, den nächsten Eisbrocken im Wasser zu erahnen, ist anstrengend. Nach der Wache ist man froh unter Deck zu kommen, einen warmen Tee zu trinken und sich aufzuwärmen.

Montag früh reißt dann der Himmel auf und die Sonne scheint wie ein Feuerball durch den Nebel. Endlich! Die Luft fängt an zu glitzern, in der Ferne taucht im Dunst die vergletscherte Küstenlinie auf - ein wundervolles Farbenspiel. Um uns herum schwimmen die zur Familie der Alkenvögel gehörenden Krabbentaucher, die, je näher wir kommen, zwitschernd in Hektik verfallen und im letzten Moment eilig vor unserem Bug abtauchen. Alken sind hervorragende Taucher und leben die meiste Zeit des Jahres auf dem Wasser - wenn man so will, der Pinguin der Nordhalbkugel. Fermentiert in Robbenhaut gelten sie bei den Grönländern übrigens als Delikatesse - nichts für schwache Nerven. Der Geruch erinnert an ranzigen Gorgonzola...

Querab ist Land in Sicht. KapYork oder in Landessprache Innaanganeq gilt als das Tor zu dem am nördlichsten gelegenen Land. Durch das Fernglas können wir sogar die 18 Meter hohe Stehle erkennen, die zu Ehren Robert Pearys dort aufgestellt worden ist - dem vermeintlichen Entdecker des Nordpols - obwohl dieser Anspruch nicht unumstritten ist. Wie zu einem riesigen Trichter verengt sich die Baffin Bucht hier, links von der kanadischen Ellesmere Insel und rechts von der grönländischen Küste begrenzt. Das ist der Beginn des legendären Smith Sundes. Erst 1818 gelang es einer britischen Expedition soweit in den Norden vorzudringen und erstmals Kontakt zu den Inughuit herzustellen, die bis dahin glaubten, die einzigen Menschen auf der Welt zu sein. So isoliert waren sie.

Wir sind sehr gespannt, was der Norden für uns bereit hält.


Justus